Besuch


Vor ca. drei Wochen besuchte mich eine Nachbarin. Sie wohnt ein paar Häuser weiter. Eigentlich haben wir nichts miteinander zu tun, außer dass wir uns grüßen, wenn wir uns auf der Straße begegnen. Sie klingelte also an der Tür, ich öffnete, war überrascht und lies sie höflich ins Haus.

Gastfreundlich wie ich bin, kochte ich uns einen Tee. Wir setzten uns gemeinsam auf die gemütliche Bank in der Küche und ich war nun bereit, zu erfahren, was es mit diesem Besuch auf sich hatte. Sie fing auch gleich an zu reden, es schien fast, als hätte sie in Erwartung des Gesprächs die Wörter alle schon hochgewürgt und in ihrem Mund zu mir getragen. Nun öffnete sie ihren Mund und die Sätze purzelten mir entgegen. 

Es ging um ihren Lebenspartner, mit dem sie nicht zufrieden schien. Sie brauchte ihn nicht, er war ihr lästig. Er konnte dies nicht, jenes nicht, nichts war ihr genug, er fuhr ihr Auto schlecht, das war nicht gut für den Motor, eigentlich brauchte sie diesen Mann nicht, er war zu gutmütig, er war zu streng zur Tochter, er war, er war. Puh, das war starker Tobak für mich. Diese Frau kannte mich doch gar nicht, wie konnte sie mir nur diese Intimen Details erzählen? Mir schien es fast, als wollte sie sich von mir Bestätigung abholen. Dafür bin ich definitiv die falsche Person. 

Ich konnte diese Frau nicht verstehen. Bevor ich einem anderen Menschen mein Herz so weit öffnen kann, brauche ich viel Vertrauen. Ich könnte niemals einer Fremden solche Dinge erzählen. Außerdem bedeutet mir Loyalität sehr viel, es ist die Essenz einer jeden Beziehung. Bin ich mit einem Mann in einer Beziehung,  dann will ich das auch. Ich akzeptiere und respektiere ihn. Natürlich erhoffe ich mir das auch von ihm. Doch was die Nachbarin erzählte, war Illoyalität pur. Das Erzählen dieser Dinge ist ein Vertrauensbruch! So etwas macht man nicht, unter gar keinen Umständen. So etwas klärt man untereinander, wie es sich zwischen erwachsenen Menschen ziemt. Ich wollte sie fragen: „Habt ihr noch Sex zusammen? Fickt er dich auch gut genug? Macht er dir einen Orgasmus? Befriedigst du ihn auch ausreichend? Umarmt ihr euch noch? Küsst ihr?“ Aber ich sagte das nicht. Ich schaute sie mit großen Augen an, unfähig, etwas darauf zu erwidern. Nachdem sie noch ein paar Tassen Tee getrunken hatte, verabschiedete sich die Frau und ging. Wahrscheinlich habe ich sie mit meiner Sprachlosigkeit schockiert, ich hätte ihr wohl aus Gründen der Geschlechtersolidarität zustimmen müssen.

Wir hatten noch keinen Kontakt seitdem, ich werde den Eindruck nicht los, dass sie mich meidet.

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